Bevor 1992 unser erstes Kind zur Welt kam, lasen wir viel über den richtigen Umgang mit Babys. Besonders bemerkenswert waren zwei Ratschläge von Experten (HINWEIS: Befolgen Sie sie nicht!) Erstens sollten Säuglinge immer mit dem Gesicht nach unten in ihr Bettchen gelegt werden, um der Gefahr des Erstickens vorzubeugen. Zweitens: Eine Lammfellunterlage im Kinderbett sollte das Immunsystem des Säuglings stärken.
Schon wenige Monate später hatten sich die Empfehlungen der Experten in beiden Punkten geändert. Säuglinge auf den Bauch zu legen, so lernten wir, kam praktisch einem Todesurteil gleich. Ebenso war das Lammfellchen, das wir gekauft hatten, im besten Fall nutzlos und im schlimmsten Fall gefährlich. Zum Glück hat unser Kind überlebt.
Auch in Behörden kann das Pendel umschlagen, wenn neue Theorien aufkommen. Etwa, wenn eine HR-Studie zu dem Schluss gelangt, dass die bei Beförderungen oder Versetzungen jahrelang praktizierten und für unverzichtbar gehaltenen Verfahren – Personalgespräche oder Assessment Centers – müßig oder irreführend sind. Oder wenn sich eine jahrzehntealte Bibliothek ihrer Bücher entledigt, nur um die Entscheidung wieder rückgängig zu machen, wenn neue Studien nahelegen, dass Bücher doch eine nützliche Informationsquelle sein könnten.
Niemand hätte 1998 ein Restaurant mit diesem Namen in Wien voraussehen können
So schwingt das Pendel auch zwischen Spezialisierung und Generalisierung hin und her. Sollte eine Organisation einen Kader von Spezialisten haben, die über großes Fachwissen beispielsweise in Wirtschaft oder Recht verfügen, oder sollte man allen Diplomaten und Diplomatinnen eine Ausbildung geben, die ihnen gute Kenntnisse in beiden Disziplinen vermittelt?
Als ich 1983 beim FCO anfing, mussten alle Neulinge einen obligatorischen Französischkurs absolvieren, nachdem ein Bericht des vielgerühmten Professors Thody (“The Thody Report”) das Niveau des gesprochenen Französisch im Ministerium für unzureichend befunden hatte. Leider wurde diese Politik sofort wieder zurückgenommen und der Kurs, mit dem ich meine vorhandenen Französischkenntnisse vertiefen konnte, nach nur zwei Wochen beendet.
An die Frage der Spezialisierung gehen die diplomatischen Dienste unterschiedlich heran. Chinesische und russische Spezialisten widmen oft ihr ganzes Leben einem Fachgebiet, einer Region oder einem Land. Die USA lassen ihre Leute bei ihrem ersten Auslandsposten konsularische Arbeit verrichten, aber danach werden die Diplomaten „cones“ zugeordnet – „Kegel“, in denen sie sich auf politische, wirtschaftliche oder öffentliche Angelegenheiten spezialisieren.
Großbritannien tendiert zum Generalismus: In dem Jahr, in dem ich in den diplomatischen Dienst eintrat, hatten die 21 Berufsanfänger 21 verschiedene Studienabschlüsse. Meine russischen Kollegen in Moskau waren erstaunt, dass ich ohne einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaften Leiter der Wirtschaftsabteilung sein konnte, während deutsche Kollegen in Berlin (meist Juristen) sich wunderten, dass man nach einem Geographiestudium Diplomat werden konnte.
Mit Freunden um die Berliner Mauer laufen
Über die Jahre ist das Pendel allerdings auch bei uns in Richtung Spezialisierung umgeschwungen. Nach meiner Tätigkeit in der Hongkong-Abteilung bewarb ich mich als Hochkommissar in Swasiland (heute Eswatini) – 1969-70 hatte ich dort die Waterford-Kamhlaba-Schule besucht – und Generalkonsul in Melbourne. Erfolgreich war ich jedoch erst mit meiner Bewerbung für die Stelle des Botschaftsrats (EU & Wirtschaft) in Bonn 1998.
Der Grund dafür war meine Kompetenz in EU- und Wirtschaftsfragen, die ich in früheren Tätigkeiten erworben hatte. Auch dass Deutsch meine am besten beherrschte Fremdsprache war, mag geholfen haben. Meine Entsendung verdankte ich also meiner Spezialisierung: Wirtschaft, EU, Fremdsprachenkenntnisse.
Als ich 1998 nach Bonn kam, dem John le Carré 30 Jahre zuvor in seinem Roman Eine kleine Stadt in Deutschland ein Denkmal gesetzt hatte, war schon wieder der alte provinzielle Charme der Stadt zu spüren. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurden die meisten Regierungsorgane nach Berlin verlegt und die französischen, US-amerikanischen und britischen Truppen abgezogen, deren Präsenz das örtliche Gemeinwesen über Jahrzehnte geprägt hatte. Es gab einige gute Tanzschulen. 1999 zogen auch wir nach Berlin, in einem Konvoi von Umzugswagen.
Ich radelte zur Arbeit in Bonn am Rhein entlang
Am 3. September 1999 nahm die Britische Botschaft in Berlin ihre Arbeit nach 60-jähriger Unterbrechung wieder auf. Nach Krieg, Teilung und Wiedervereinigung tastete Berlin sich jetzt an eine neue Identität heran. Eine Großstadt bot Vorteile – in Bonn hatte es keine Loveparade, kein Olympiastadion und keine blühende Open-Air-Kinoszene gegeben. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts war hier allgegenwärtig, vom Deutsch-Russischen Museum in Karlshorst im Osten bis hin zur Glienicker Brücke im Westen, vom KZ Sachsenhausen im Norden bis hin zu den Resten der Berliner Mauer um das damalige Westberlin.
Meine Arbeit war hochinteressant. Ich verhandelte mit Deutschland über EU-Fragen, verfolgte die Gründung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und arbeitete mit britischen und deutschen Unternehmen wie Volkswagen und Vodafone in ganz Deutschland zusammen. 2002 wurde das Euro-Bargeld eingeführt – ich erinnere mich, wie ich am 1. Januar 2002 auf der Insel Hiddensee durch den Schnee zu einem Geldautomaten stapfte, um die neuen Banknoten und Münzen in Augenschein zu nehmen.
Ich bin auch ein bisschen mit dem Fahrrad in Berlin gefahren
Die Botschaft verbrachte damals viel Zeit damit, die Bundesregierung zu überzeugen, die Einfuhr von britischem Rindfleisch nach Deutschland zuzulassen, nachdem im Vereinigten Königreich die bovine spongiforme Enzephalopathie (BSE) und die Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (vCJD) ausgebrochen war. BSE war ein frühes Beispiel für politische Entscheidungsprozesse bei einer Seuche, deren Verlauf unbekannt war. Zum Glück erwies sich vCJD als weniger übertragbar als befürchtet, und die britischen Rindfleischexporte konnten wieder aufgenommen werden. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass 20 Jahre später eine Burgerkette in Wien namens Rinderwahn mit dem Slogan „Crazy about Burgers“ einmal gute Geschäfte machen würde.
Ein Posten in Berlin, das gerade seine neue Hauptstadtrolle übernahm, war ein Privileg. Sollte man sich zur Förderung seiner Karriere spezialisieren? Vermutlich. Aber denken Sie daran: Das Pendel kann jeden Moment umschlagen.
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Die früheren Blogs in dieser Reihe:
Diplomatische Lehren 1, 1979-83: Ziehe keine voreiligen Schlüsse
Diplomatische Lehren 2, 1983-87: Fremdsprachen verändern alles
Diplomatische Lehren 3, 1987-91: Bewirb dich um den schwierigsten Job
Diplomatische Lehren 4, Russland 1991-95: Mach dir einen Plan und halt dich nicht daran
Diplomatische Lehren 5, 1995-98: Bewirke etwas!
Demnächst: Diplomatische Lehren 7, Berlin 2002-2006