14th January 2021 Vienna, Austria
Diplomatische Lehren 4, Russland 1991-95: Mach dir einen Plan und halt dich nicht daran
Das Bier draußen vor “The Two Chairmen”[1] war kalt und erfrischend.
Mein Kollege hob sein Glas. ‘Ihr habt eure Kinder vor ein paar Jahren bekommen’, sagte er. ‘Wir können uns nicht auf den richtigen Zeitpunkt einigen. Was meinst du?’
‘Manches lässt sich nicht planen,’ erwiderte ich.
Ich hatte Pamela, eine Kollegin in London, 1990 kennengelernt. Noch im selben Jahr suchten wir nach einem gemeinsamen Auslandsposten. Zwei Stellen in unserem Dienstgrad würden nur in drei Vertretungen frei werden: Washington (dem Regierungsapparat in Whitehall zu ähnlich), Brüssel (zu nah an London) und Moskau.
Mein russischer Führerschein im Dezember 1992. Offizielle sowjetische Fotografen hatten die Angewohnheit, Motive irgendwie sowjetisch aussehen zu lassen.
Pamela sprach bereits Russisch (und Chinesisch). Ich würde es lernen müssen, obwohl man mir offiziell zu verstehen gegeben hatte, meine Fähigkeiten zum Sprachenlernen seien gleich Null. Sie würde den Posten für interne Politik übernehmen, ich für Handel. Wir bewarben uns und bekamen die Stellen.
Und dann veränderte sich alles.
Am 19. August 1991 starteten kommunistische Hardliner einen Putsch gegen den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow, der den Zusammenbruch der Sowjetunion einleitete. Ich erinnere mich, dass ich beim Aufwachen hörte, wie ein BBC-Kommentator – kein Anderer als der Medienmogul Robert Maxwell – rätselte, ob Gorbatschow noch am Leben war. Am 8. Dezember unterzeichneten die Staatsoberhäupter von Russland, Ukraine und Belarus das Belowescha-Abkommen, mit dem die Sowjetunion aufgelöst und die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten gegründet wurde. In meinem Russischkurs diskutierten wir, gebeugt über einen Atlas, ob wir am Ende in das GUS-Hauptquartier in Minsk versetzt würden, was allerdings nicht geschah.
Senioren und Seniorinnen tanzen im Dserschinksi-Park, Frühling 1993
Meine Stelle in Moskau wurde gestrichen, und ich bekam Wirtschaftsangelegenheiten zugeteilt.
Im Dezember trafen wir mit unserem drei Monate alten Sohn Owen in Moskau ein. An meinem ersten Arbeitstag, an dem ich von unserer Wohnung im 13. Stock in der Uliza Akademika Koroljowa aus eine blutrote Sonne aufgehen sah, machte ich mich auf den Weg durch den Schnee zur Metrostation. Unsere Büros hatten wir in Portakabins auf der Rückseite der alten Botschaft, gegenüber dem Kreml.
Von 1992-95 als Diplomat in Russland für die Wirtschaftsberichterstattung über einen Großteil der Ehemaligen Sowjetunion[2] zuständig zu sein, war ein Privileg und eine Herausforderung. Für die meisten Russen war das Leben hart. Die Supermärkte und Tankstellen waren leer[3], die Gesundheitsversorgung war schlecht, Hyperinflation und Währungsreform vernichteten Ersparnisse[4].
Hyperinflation: Beim Bezahlen eines Taxis in Wladiwostok, Juli 1993
Die Unruhen erschwerten jegliche Planung. Am Anfang unseres neunmonatigen Sprachkurses hatten wir Ausdrücke gelernt wie “der unvermeidliche Zusammenbruch des Kapitalismus”, 1992 war die Rede vom „Übergang zu einer Marktwirtschaft“.
Die Wirtschaft stand vor ungeheuren Herausforderungen. Man erzählte sich, die Ingenieure einer Fabrik für ballistische Raketen seien von der Geschäftsleitung zusammengerufen worden, um eine moderne Waschmaschine vorgeführt zu bekommen. ‚So, Jungs‘, habe der Manager gesagt, ‚das stellt ihr jetzt her‘. Der Leiter einer Privatbank überraschte mich bei einem Treffen, indem er mir eine Pistole zeigte, die er zu seinem Schutz gekauft hatte. Monate später wurde er ermordet.
Auf einer Landwirtschaftsmesse in Kasan, April 1994
Russisch zu sprechen, war hilfreich. Außerhalb Moskaus konnte kaum jemand Englisch. Meine Arbeit führte mich von Kaliningrad im Westen zu Petropawlowsk-Kamtschatski und Wladiwostok im Osten. Überall begegnete ich Unternehmern, ausländischen Investoren und lokalen und nationalen Regierungsangestellten, die versuchten, Ordnung zu schaffen oder über die Runden zu kommen.
Obwohl die unsichere Lage jegliche Vorausplanung schwierig machte, ging das Leben für die Russen weiter. 1993 sah ich Rentner im Dserschinski-Part beim Tanztee im Frühlingsschnee, Jugendliche, die zum Widerstand gegen den Putsch gegen Jelzin am 3. Oktober Barrikaden auf der Twerskaja-Straße errichteten; und Einheimische, die auf brüchigen Eisschollen an der Küste der Insel Sachalin fischten.
Panzer fahren während des Putschs im Oktober 1993 an der Lenin-Bibliothek in Moskau vorbei.
‘Wir müssen uns anpassen,’ erklärte mir ein Forscher bei meinem Besuch des Wissenschaftsparks Akademgorodok in Sibirien. ‘Wenn ich 200 Kilometer zum Pilzesammeln im Wald fahre und mein Auto eine Panne hat, kann ich es reparieren. Mein amerikanischer Kollege muss auf dem Weg zum Supermarkt einen Abschleppdienst rufen.’
Wjasemski, September 1995. Mein Lieblingsbahnhof an der Strecke Wladiwostok-Chabarowsk der Transsibirischen Eisenbahn bot mir die Gelegenheit, ein chinesisches Bier zu kaufen.
Was man daraus lernen kann? Genau wie all die beeindruckenden Russen und Russinnen, die ich getroffen habe und die mit viel größeren Problemen zu kämpfen hatten, muss man sich als Diplomat auf Ungewissheiten einstellen. Es ist gut, einen Plan zu haben; aber unter den richtigen Umständen muss man auch bereit sein, ihn umzustoßen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich einmal Russisch lernen, zwei reizende Kinder bekommen (Anna wurde 1994 geboren) oder mich in einem kapitalistisch gewordenen Land mit Wirtschaftspolitik befassen würde. Alles war unvergesslich. Alles hat mein Leben bereichert.
‘OK, das Leben ist unvorhersehbar,’ sagte mein Freund vor dem Pub. ‘Wie plant man also den besten Zeitpunkt für ein Kind?’
‘Es ist gut, Pläne für vieles zu haben. Aber manchmal muss man sie über Bord werfen und einfach das tun, was einem richtig erscheint.’
*
Die früheren Blogs in dieser Reihe:
– Diplomatische Lehren 1, 1979-83: Ziehe keine voreiligen Schlüsse
– Diplomatische Lehren 2, 1983-87: Fremdsprachen verändern alles
– Diplomatische Lehren 3, 1987-91: Bewirb dich um den schwierigsten Job
Demnächst: Diplomatische Lehren 5, Hongkong, 1995-98: Bewege etwas!
[1] Ein Pub im Zentrum Londons
[2] Großbritannien hatte nur Botschaften in Kiew, Baku, Almaty und Moskau, das auch für die anderen postsowjetischen Republiken zuständig war
[3] Benzin kauften wir am Straßenrand aus Tankwagen, die meist von Tschetschenen betrieben wurden. Unsere erste Mahlzeit, ein mageres Hähnchen, hatten wir bei einer älteren Frau vor einer Metrostation gekauft.
[4] 1992 kostete eine Metrofahrkarte 5 Kopeken. 1995 lag der Preis dafür bei 5.000 Rubel, das 100.000-Fache.