“Wenn Sie einmal Botschafter sind”, meinte die kluge Ex-Botschafterin und fixierte mich mit ihrem stählernen Blick, “sind Sie weit weg von London. Um sichtbar zu bleiben, müssen Sie etwas tun, womit man Sie identifiziert – sozusagen eine Marke aufbauen.”
Im Januar 2008 nahm ich auf dem Weg nach Anguilla an einer Konferenz in Miami teil (die Presse titelte später: “Britischer Diplomat in Anguilla erklärt, es gebe keinen ‚Geheimplan‘ für die Überseegebiete“). Die Personalchefin bat mich, mich zu ihr zu setzen. “Was halten Sie davon, sich auf die Botschafterstelle in Kiew zu bewerben?”, fragte sie. “Sie wird in drei Monaten vorzeitig frei, und wir brauchen jemanden, der Russisch oder Ukrainisch spricht.”
Übernimm Verantwortung, dachte ich mir, und sagte zu.
„Botschafter Ihrer Majestät“ zu werden ist für einen Diplomaten ein großes Privileg. In meinem Beglaubigungsschreiben, das von Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. unterschrieben und an den ukrainischen Präsidenten Juschtschenko gerichtet ist, heißt es: “Wir haben Unseren treuen und geliebten Herrn Leigh Turner ausgewählt, um als Unser außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter bei Ihnen zu weilen.”
Als ich mich von unserem für den diplomatischen Dienst zuständigen Staatssekretär verabschiedete, wollte er wissen, ob ich mich darauf freue. “Es macht mir ein bisschen Angst”, sagte ich mit etwas übertriebener Ehrlichkeit. Er runzelte die Stirn. “Genießen Sie es”, sagte er. Ein guter Rat.
Der Job beinhaltete vieles, was man genießen konnte. Die Ukraine war damals wie heute ein wichtiges Land. 1991 war sie von der Sowjetunion unabhängig geworden. Man zitierte sehr gern den ehemaligen nationalen Sicherheitsberater der USA, Zbigniew Brzezinski, der gesagt hatte: “Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein Imperium zu sein.”
Im August 2008, zwei Monate nach meiner Ankunft in Kiew, brach der russisch-georgische Krieg aus und sandte Schockwellen durch die Region. Im selben Monat kam der britische Außenminister David Miliband nach Kiew, wo er sich mit Präsident Juschtschenko und Ministerpräsidentin Timoschenko traf. Im September nahm ich an der Eröffnung des ukrainischen Parlaments teil; in meinem Tagebuch steht hierzu: “Am Ende des Tages war die Regierungskoalition auseinandergebrochen, wodurch eine Verfassungskrise ausgelöst wurde”. Und im Oktober stattete uns Prinz Andrew, der Herzog von York, einen Besuch ab.
Angesichts der demokratischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen der Ukraine war meine Arbeit als Botschafter spannend und intensiv. Neben Regierungsvertretern und –vertreterinnen traf ich Oppositionsführer wie Viktor Janukowitsch (später Präsident) und Mykola Asarow (später Ministerpräsident), Abgeordnete, ukrainische und britische Wirtschaftsführer und Funktionäre. Unter meinen Botschafterkollegen war Viktor Tschernomyrdin, der während meiner Zeit in Moskau Ministerpräsident gewesen war und von dem das geflügelte Wort stammt: “Wir wollten das Beste, aber es kam so wie immer” (xотели как лучше, а получилось как всегда). Es gab Krisen wie den Abbruch der russischen Gaslieferungen an die Ukraine im Januar 2009 und immer wieder Bedenken hinsichtlich der demokratischen Normen und der Meinungsfreiheit. Ich reiste von Lwiw (Lemberg) im Westen nach Dnipropetrowsk und Donezk im Osten sowie auf die Krim und nach Odessa im Süden. Bei dieser letzten Reise besichtigte ich auch das Museum für Strategische Raketenstreitkräfte – es lohnt sich.
Zur Ukraine und ihren Menschen entwickelte ich eine große Zuneigung. Ich lernte Ukrainisch, das vom Russischen ungefähr so verschieden ist wie das Niederländische vom Deutschen. In vielen Bereichen, auch in der Politik, war Ukrainisch die alleinige Verkehrssprache. Bei meinem Sprachaufenthalt in Lviv im Mai 2009 lernte ich in einer ehemaligen Mönchszelle in einer Schule für darstellende Künste zu Geigenklängen, die unter der Tür hindurchdrangen, Redewendungen wie “Ich stimme voll und ganz zu”, “Da liegen Sie völlig falsch” und “Klimawandel”. Zum Mittagessen gab es einmal “Suppe mit Ohren”. Das ist ein galizisches Gericht, bei dem mir wieder einfiel, dass im Brettspiel Diplomacy, das im Jahr 1901 angesiedelt ist, die Kontrolle über Galizien spielentscheidend sein konnte!
Im selben Jahr begann ich mit dem Bloggen. Die Idee entstand bei einem Karriere-Coaching. “Wofür sind Sie im Foreign Office bekannt?”, fragte mein Coach. Ich dachte an die kluge Ex-Botschafterin und gab irgendetwas Banales von mir. “Ja, aber was machen Sie am liebsten?”, insistierte sie. “Das in Kombination mit Ihrer diplomatischen Arbeit muss Ihre Marke werden.”
Tatsächlich war das, was ich am liebsten tat, das Schreiben.
Im Jahr 2009 waren Blogs von Diplomaten noch nicht weit verbreitet. Die Wirkung meiner Blogversuche, die auf der gerade eingerichteten Blogging-Seite des FCO (jetzt FCDO) auf Englisch und Ukrainisch erschienen, war bescheiden. Dann aber fragte die ukrainischsprachige Zeitung in London, Ukrayinska Dumka, an, ob sie meine Blogs nachdrucken könne. Es folgten Delo, eine russischsprachige Wirtschaftswochenzeitung in Kiew, und die englischsprachige Kyiv Post. Später begann Ukrainska Pravda, die größte ukrainische Blogging-Seite, meine Beiträge erneut zu veröffentlichen, und hier wurden sie oft heftig diskutiert.
Im Laufe der drei Jahre wurden meine Blogs zu den verschiedensten Themen, von der Redefreiheit über das Down-Syndrom, britische Filme und Musik, Tschernobyl, Botschafterinnen, Visapolitik bis hin zur Reform der ukrainischen Gasindustrie, ein wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Wenn ich mich mit ukrainischen Politikern traf, kommentierten sie als Erstes aus ihrer morgendlichen Pressezusammenfassung etwas, das ich geschrieben hatte. In London wurde das begrüßt. „Leigh ist gemeinhin einer der führenden Nutzer der neuen Medien im FCO“ stand in meiner Beurteilung vom Oktober 2011, „sein Blog ist ein wertvolles Instrument, um die Botschaften des Vereinigten Königreichs in der Ukraine zu vermitteln.“
Von 2009 bis 2021 veröffentlichte ich Blogs in Kiew, Istanbul und Wien. Auf der FCDO-Seite finden sich 498 Beiträge. 2011 eröffnete ich ein Twitter-Konto und 2015 eines auf Instagram. Die sozialen Medien verschaffen der britischen Regierung ein breiteres Publikum als in der Vergangenheit, und manchmal regen sie auch zu Feedback und Diskussionen an. Als ich nach der Fußball-Europameisterschaft 2012 in der Ukraine Kiew verließ, hatte ich so etwas wie eine Marke aufgebaut, zu der definitiv das Schreiben und die sozialen Medien gehörten. Aber sagen Sie mir, wenn Sie anderer Meinung sind!
P.S. Bei der Recherche für diesen Blog stieß ich auf einen Tagebucheintrag am 24. Juni 2012, in Kiew. “Habe mir gerade das Viertel-Finale der Euro 2021 angesehen, in dem England beim Elfmeterschießen gegen Italien ausgeschieden ist.” Manches ändert sich nie.