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Leigh Turner

Ambassador to Austria and UK Permanent Representative to the United Nations and other International Organisations in Vienna

7th September 2020 Vienna, Austria

Wie sich Österreich verändert hat, und wie nicht

“Sie waren Diplomat im Wien der 1980er Jahre?”

Mein Gegenüber mustert mich, vermutlich erstaunt dass ich nach wie vor arbeite oder am Leben bin. “Es muss sich stark verändert haben!”

“Nun…” suche ich eine diplomatische Antwort. “Ja und nein.”

Ein berühmter Spruch von Oscar Wilde sagt “Vergleiche sind widerwärtig” (“Comparisons are odious”). Darauf berufe ich mich oft, wenn ich gefragt werde, welcher meiner diplomatischen Posten in Wien, Moskau, Berlin, Kiew und Istanbul mir am besten gefallen hat. Wien hat sich definitiv weiterentwickelt seit ich hier von 1984-87 als zweiter Botschaftssekretär meinen ersten Auslandsposten hatte.

Genau ein Jahr vor dem Ende meines zweiten Postens in Wien, wo ich seit 2016 Botschafter bin, wollte ich daher fünf Dinge auflisten, die sich aus meiner Sicht  in Österreich und insbesondere in Wien verändert haben und fünf Dinge, die gleich geblieben sind.

Was gleich geblieben ist

  1. “Wien war so grau und fad, oder?” Viele Junge Wiener sind überzeugt, dass ihre Stadt in den 1980er Jahren furchtbar war. Aber auch als ich 1984 hier angekommen bin haben mir die Leute gesagt, wie schlimm es in den 60er und 70er Jahren war. Ich habe jedenfalls eine spannende Stadt erlebt. Das Bermuda Dreieck voller Bars und Restaurants, bekannt dafür dass man von dort nur schwer wieder nach Hause findet, hatte Hochbetrieb. Der Austropop hat einem seiner vielen Höhepunkte zugesteuert. Falco’s Rock Me Amadeus war 1986 Nummer eins der Charts in UK und den USA. Die Wiener wussten wie man Spaß hat (das wissen sie immer noch) und die Polizei hat so manche Feier um 22 abgestellt (das macht sie ebenfalls heute noch genauso). Ein kleiner Tipp: Wenn einmal die Ordnungshüter vor der Tür stehen sollte man eher nicht das Funkgerät eines Polizisten schnappen und “Beam me up Scotty” reinsagen. Für weitere Infos zur den lautesten Partyspielen im Wien der 80er können Sie sich gern an mich wenden (*siehe Playlist unten). Grau und fad war es jedenfalls nicht.
Falco – eine Ikone der Wiener Musikszene in den 1980ern
©SonymusicAustria
  1. “Aber ist Wien nicht so international geworden?” Wien war schon in den 1980ern international. Das Vienna International Centre oder VIC wurde 1979 eröffnet und machte Wien neben New York und Genf zum dritten UNO Sitz. Diplomatinnen und Diplomaten aus der ganze Welt kamen in die österreichische Hauptstadt. Wien hatte auch fantastische internationale Küche, persisch, türkisch, koreanisch sowie aus den nahen Balkanländern. Mein Liebelingsrestaurant war ein Koreaner bei dem man sein Essen selbst grillen konnte (leider gibt es das Lokal nicht mehr). Nicht ÖsterreicherInnen haben sich oft beschwert, dass gefühlte 95% der Lokale nahezu idente Speisekarten hatten. Das ist vielerorts nach wie vor der Fall aber die offerierten Speisen sind eben auch sehr gut (Schnitzel, irgendwer?). In den 1980ern haben ÖsterreicherInnen und vor allem WienerInnen den Rest der Welt mit einer leicht amüsierten Herablassung betrachtet. Ich überlasse es den ÖsterreicherInnen selbst, einzuschätzen ob das nach wie vor der Fall ist.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Breitenlesau_Krug_Br%C3%A4u_Schnitzel.JPG
Mit einem klassischen Wiener Schnitzel kann man nicht falsch liegen
©Benreis / Wikivoyage
  1. Wenigstens sind die Geschäfte länger offen! In den 80ern haben mich die kurzen Ladenöffnungszeiten von Supermärkten, die am Samstag schon zu Mittag geschlossen waren, verrückt gemacht. Wann hätte man als arbeitender Mensch einkaufen gehen sollen? Als ich 2016 zurück kam hatte sich die Lage gebessert. An Knotenpunten wie Wien Mitte oder dem neuen Hauptbahnhof gab es nun Supermärkte die sogar am Sonntag offenhaben. Aber die meisten Geschäfte in kleineren österreichischen Städten machen nach wie vor am Samstag mittag zu und bleiben am Sonntag ganz geschlossen. Die meisten Menschen in Österreich haben damit allerdings kein Problem
  1. Die Menschen haben die ganze Zeit gejammert. Das ist heikel. Ich hatte seit meiner Rückkehr nach Österreich 2016 einige Gespräche mit Leuten die mir sagten, dass Kellner, Busfahrer und andere Passanten in Wien nicht immer besonders freundlich seien und dass das sogenannte granteln ein Nationalsport wäre. Die Wienerinnen und Wiener sind stolz auf Ihren Wiener Schmäh, den ein Kabarettist einmal sinngemäß als Vereinigung der normalerweise inkompatiblen Elemente Charme und Unfreundlichkeit bezeichnet hat. Das Wiener Expat Magazin Metropole hat das Thema im vergangenen Jahr ebenfalls behandelt. Im Gegenzug, bin ich allerdings oft beeindruckt, wie Bus oder Straßenbahnfahrer auf heraneilende Fahrgäste warten (nicht selten auf mich selbst). Das wäre in einigen britischen Städten nicht immer der Fall.
Ich bei einer Botschaftsveranstaltung in der britischen Residenz 1987
  1. Die Politik war von Skandalen geprägt. Wieder heikel. Als ich von 1984-87 hier war, durchlief Österreich den Weinskandal, den Fall Lucona, die Waldheim-Affäre, und diverse Probleme mit den Abfangjägern. Die Leute sprachen auch über das stets notwendige Vitamin B (B wie Beziehungen) und Netwerke wie den “Club 45” oder den Cartellverband wo sich hohe politische Meinungsführer regelmäßig trafen. Heute ist der österreichische Wein erstklassig, und die Politik scheint um einiges transparenter geworden zu sein. Gleichzeitig muss man feststellen – es gibt nach wie vor Probleme mit den Abfangjägern, es gab die Ibiza Affaire (in deren Zuge mein meistgelikter tweet entstanden ist) und Bankenskandale. Österreich ist auch nach wie vor ein Land von dichten Netzwerken wo politische Parteien und die sogenannten Sozialpartner eine wichtigere Rolle spielen als in anderen Ländern. Als ich vor kurzem eine österreichische Politikexpertin um ihre Einschätzung gebeten habe meinte sie nur: “Die Skandale sind auch nicht mehr das was sie einmal waren.” Mehr ist nicht zu sagen.

Was sich alles verändert hat

  1. Wein. Der Weinskandal 1985 hat die österreichische Weinkultur und vor allem die Qualität des Endprodukts dramatisch verändert. Von meinem ersten Heurigenbesuch in Wien direkt am Tag meiner Ankunft in der Stadt im September 1984 erinnere ich mich vor allem an den Morgen danach. Damals war es ein kleines Wunder eine gute Flasche österreichischen Rotweins zu finden. 36 Jahre später ist der österreischische Wein durch die Bank hervorragend, egal ob rot, weiss oder rot-weiss-rot. Prost!
Österreichischer Wein ist in den vergangenen Jahren zur Weltspitze aufgestiegen
© Tomas er – Wikimedia
  1. Das Verkehrsnetz ist viel besser, in Wien und außerhalb. In den 1980ern war das Wiener U-Bahn System noch bescheiden, schnelle Zugverbidnungen gab es nur wenige und es gab keine gute Autobahnverbindung nach Graz oder Klagenfurt. Direktflüge aus Wien Schwechat in den Rest der Welt waren rar und teuer. Radwege gab es nur vereinzelt (obwohl ich mich noch gut an mein Erstaunen erinnere als mir bei einem Trip durch die Lobau ein nackter Herr auf seinem Rad entgegenkam). Heute, von COVID 19 einmal abgesehen, sind die internationalen Verbindungen top, die Straßennetz ist gut ausgebaut und Wien hat ein stetig wachsendes Radwegesystem. Zwischen 2001 und 2018 hat der öffentliche Verkehr in Wien in Bus, Tram und U-Bahn 240 Millionen Passagiere dazugewonnen.
Das Wiener U-Bahnnetz wächst sehr schnell
©Wiener Linien
  1. Damit verbunden hat sich, Österreich Richtung Osten geöffnet. 1984 hatten die Strassenschilder vom Flughafen Wien Richtung Bratislava und Prag einen ironischen Touch. Nach wie vor wurden Menschen an der Tschechoslowakischen Grenze erschossen. Ich erinnere mich an eine Fahrt durch Kärnten wo mich Ansässige warnten, nicht zu nahe an die jugoslawische Grenze auf der anderen Strassenseite zu kommen. Der Fall des eisernen Vorhangs 1989 hat Österreich von einem Land umschlossen von einer unüberwindbaren Grenze (spürbar vor allem in Städten wie Graz und Klagenfurt) zurück ins Herz von Europa geholt. Das hatte einen großen Effekt auf Wien. Die Stadt ist stetig gewachsen und steht seit Jahren an der Spitze diverser Lebensqualitätsrankings.
  1. Wien ist größer, wohlhabender und langlebiger geworden. 1984 betrug die österreichische Bevölkerung 7,6 Millionen Menschen, davon 1,5 Millionen in Wien. Heute stehen die Zahlen bei 8,9 und 1,9 Millionen. Wien hat Hamburg, Budapest, Warschau und Bucharest überholt und ist zur sechstgrößten Stadt Europas aufgestiegen (allerdings liegt Wien damit immer noch hinter dem eigenen Zentralfriedhof zurück auf dem an die 3 Millionen Menschen begraben sind). Tourismus ist stark angestiegen seit den 80ern. Die Herkunftsländer der Touristinnen und Touristen sind heute andere. Deutlich weniger Nächtigungen von Deutschen (von 65 Millionen Nächtigungen in 1980 auf 56 Millionen 2018) stehen, wenig überraschend, mehr Nächtigungen aus Osteuropa und Asien gegenüber. Vor Corona waren Chinesen mit einer Million Besuchern pro Jahr die größte Besuchergruppe außerhalb von Österreichs direkten Nachbarländern. 1984 gab es in ganz Österreich 2,5 Millionen Autos, jetzt sind es 5 Millionen. In 1984 (gemessen an US dollars vom Stand 2010) hatte Österreich ein Bruttonationalprodukt von weniger als 30.000 Dollar pro Kopf. 2019 war es mehr als 50.000 (Quelle Trading Economics deren Tabellen einen linearen Anstieg zwischen 1960 und 2008 zeigen). Die Lebenserwartung bei der Geburt ist ebenfalls gestiegen von 73,6 Jahren 1984 auf 81,7 Jahre 2018, knapp vor UK wo der Wert im selben Zeitraum von 74,8 Jahren auf 81,3 jahre gestiegen ist (Quelle Weltbank – eine meiner Lieblingstabllen, vergleichen Sie verschiedene Länder um zu sehen wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung verändert hat)
Tu felix Austria – mein Photo vom Wiener Naschmarkt 1987
  1. Zuguterletzt, hat sich das Einkaufen, Restaurants und Nachtleben in Wien seit den 1980er Jahren stark verändert. Höhere Lebensstandards und mehr städtischer Tourismus haben zu einem Boom der Restaurant- und Shoppingszene geführt. Ganze Abstiche der Stadt wurden neu entwickelt, wie etwa der Hauptbahnhof, das Areal um die neue Wirtschaftsuniversität (auf deren Campus auch ein Gebäude der britischen Stararchitektin Zaha Hadid steht), der alte Nordbahnhof und die Seestadt Aspern (die so groß ist, dass ich eine Elektroroller gebraucht habe um mir alles anzusehen). Der Klimawandel und das Rauchverbot in der Gastronomie haben dazu geführt das Restaurants und Bars sich nach außen hin geöffnet haben, und Gehsteige, Strassen und Parks der Stadt weiter belebt haben. Im Winter gibt es unzählige Weinachtsmärkte. Der berühmte Christkindsmarkt war der einzige der mir aus den 80ern in Erinnerung geblieben war. Einige Wiener sehen es nicht gerne, dass große Gastronomie- und Kaufhausketten zusehends expandieren. Es ist allerdings tröstlich, dass das der Existenz von einzelnen, spezialisierten, oft sogar schrullig anmutenden Shops, Restaurants und natürlich Cafes in der Stadt keinen Abbruch zu tun scheint.
Learning Centre an der WU Wien im Design von Zaha Hadid
©Wirtschaftsuniversität Wien

Ein gern bemühtes Zitat über Wien lautet “wenn die Welt untergeht kommen Sie nach Wien, da passiert alles 20 Jahre später”.

Auf dass sich einige Dinge in Wien nie ändern mögen!

* Zu den top Hits von Wohnungsparties im Wien der 1980er zählten unter anderem

(idealer Hintergrund-Soundtrack für die Lektüre dieses Blogs)

About Leigh Turner

I hope you find this blog interesting and, where appropriate, entertaining. My role in Vienna covers the relationship between Austria and the UK as well as the diverse work of…

I hope you find this blog interesting and, where appropriate, entertaining. My role in Vienna covers the relationship between Austria and the UK as well as the diverse work of the UN and other organisations; stories here will reflect that.

About me: I arrived in Vienna in August 2016 for my second posting in this wonderful city, having first served here in the mid-1980s. My previous job was as HM Consul-General and Director-General for Trade and Investment for Turkey, Central Asia and South Caucasus based in Istanbul.

Further back: I grew up in Nigeria, Exeter, Lesotho, Swaziland and Manchester before attending Cambridge University 1976-79. I worked in several government departments before joining the Foreign Office in 1983.

Keen to go to Africa and South America, I’ve had postings in Vienna (twice), Moscow, Bonn, Berlin, Kyiv and Istanbul, plus jobs in London ranging from the EU Budget to the British Overseas Territories.

2002-6 I was lucky enough to spend four years in Berlin running the house, looking after the children (born 1992 and 1994) and doing some writing and journalism.

To return to Vienna as ambassador is a privilege and a pleasure. I hope this blog reflects that.