28th January 2019 Vienna, Austria
Der dritte Mann kommt in meine Residenz
Ich habe das Glück, in Wien in einer historischen Botschafterresidenz wohnen zu dürfen. Sie wird nicht nur ständig für Veranstaltungen unserer drei Wiener Vertretungen genutzt, sondern verfügt auch über mehrere Gästezimmer, in denen Minister und Beamten übernachten können, wenn sie hier in der Stadt zu tun haben.
Als ich nach Wien kam, hatten diese Zimmer keine Namen. Also habe ich bei meinen Mitarbeitern eine Umfrage durchgeführt, wie wir sie benennen könnten.
Die Fülle von Vorschlägen, die eingingen, war überwältigend.
Einige Ideen hatten historische oder geographische Bezüge. Die Zimmer könnten je nach ihrer Größe nach österreichischen Bundesländern (“Salzburg”, “Vorarlberg” usw.) oder nach ehemaligen österreichisch-ungarischen Gebieten (“Böhmen”, “Siebenbürgen” usw.) benannt werden.
Berühmte Persönlichkeiten wurden ebenfalls vorgeschlagen: Briten, Österreicher oder Personen, die beides verbanden (“Famous Austro-Brits”). Ein Problem war, dass es fast immer Männer waren, z.B. Karl Popper, Josef Haydn, Metternich und Wellington. Es gab auch die Idee, die Zimmer nach berühmten Österreicherinnen wie Hedy Lamarr, Maria Theresia und Ingeborg Bachmann zu benennen. Namen von Teilnehmern des Wiener Kongresses von 1815 hätten eine historische Verbindung zwischen Großbritannien, Österreich und dem übrigen Europa hergestellt – eine clevere Idee, aber auch wieder fast nur Männer.
Bei der letzten Kategorie von Vorschlägen wurde die Suche etwas ausgeweitet. Auf die österreichische Küche zum Beispiel („Wiener Schnitzel“, „Palatschinken“, „Sachertorte“, „Germknödel“ usw. – nett, aber wer würde schon gern im Zimmer “Germknödel” wohnen?); Charaktere von The Sound of Music (Maria, Georg, Liesl, Friedrich & Co – ausgewogenes Geschlechterverhältnis, unterhaltsam, österreichisch, aber nicht sehr britisch und nicht jedermanns Geschmack); Charaktere von Fawlty Towers (Basil, Sybil, Manuel, Polly u.a. – gute Verbindung zu Hotel, gutes Geschlechterverhältnis, aber ohne Bezug zu Österreich); und ein schwer einzuordnender Vorschlag, die Zimmer „Wie“, „Wer“, „Wo“, „Wann“, „Was“ und “Warum“ zu benennen. Ich fand das elegant – völlig impraktikabel, aber mit Potenzial für faszinierende Gespräche wie: “Herr Smith ist in Warum”. ”Wo?” – ”Nein, Warum”. “Was?” “Nein …” und so weiter.
Letztlich waren es die folgenden Kriterien, die für mich wichtig waren: Flair, Einprägsamkeit, eine dazugehörige Geschichte, geschlechtsneutral und im Idealfall ein Name, der Großbritannien mit Österreich verband. So habe ich schließlich beschlossen, die Zimmer nach Orten zu benennen, die in dem Film “Der dritte Mann” vorkommen. Diese britische Produktion aus dem Jahr 1949, die nach einem Drehbuch von Graham Greene entstand, spielt im zerstörten Wien der Nachkriegszeit und handelt von Liebe, Tod, Verrat, unsterblicher Hoffnung. Eindrucksvoll sind die Schauplätze, die meist nächtlichen Szenen auf nassem Kopfsteinpflaster, die mit britischen Kameras gedreht wurden. Die sechs Zimmer bekommen jetzt folgende Namen (Warnung: die Erklärungen enthalten Spoiler, wenn Sie den Film nicht gesehen haben):
- Das ehemalige VIP I wird zu Riesenrad. Es wurde übrigens 1897 von dem britischen Ingenieur Walter Bassett gebaut. Im Film kommt es hier, hoch oben über der Stadt, zur zentralen Konfrontation zwischen Holly Martins und Harry Lime.
- Das ehemalige VIP II wird zu Mozart. Im Café Mozart trifft Holly Martins bei seinen Bemühungen, den angeblichen Tod seines Freundes Harry aufzuklären, den mysteriösen “Baron” Kurtz, der ein Exemplar von Martins‘ Buchs “The Oklahoma Kid” umklammert.
- Das Doppelzimmer mit Bad im zweiten Stock wird zu Strauss. Am Anfang des Films Der dritte Mann sind Wiener Schauplätze zu sehen, darunter das Johann-Strauss-Denkmal im Stadtpark, während ein vom Regisseur Carol Reed gesprochener Erzähler sagt: “I never knew the old Vienna before the war, with its Strauss music, glamour and easy charm – Constantinople suited me better”.
- Das Eckzimmer im zweiten Stock wird zu Sacher. Als historisches Wiener Hotel kommt das Sacher im Film mehrfach vor, unter anderem in der Szene, wo Major Calloway, gespielt von Trevor Howard, Holly Martins überreden will, Wien zu verlassen.
- Das Doppelzimmer im zweiten Stock mit Blick auf Kirche wird zu Schulhof. Benannt nach der atemberaubenden Szene, wo Harry Lime über das glitzernde Kopfsteinpflaster des Schulhofs flüchtet, dabei einen Schatten auf die Kirchenmauer wirft, bevor er in die Straße Am Hof eintaucht und verschwindet. Die Straße hat sich nicht verändert.
- Das Kleine Doppelzimmer im zweiten Stock wird zu Schreyvogelgasse. Für Briten schwer auszusprechen, aber das Zimmer wird selten benutzt und die Szene darf nicht fehlen. Der Eingang zum Haus Schreyvogelgasse 8 ist der Ort, an dem Harry Lime, der von Orson Welles gespielt wird, ungefähr nach der Hälfte des Films seinen ersten Auftritt hat. Eine Katze, die Harrys Geliebter gehört – Anna liebt ihn trotz seiner üblen Machenschaften und seines vermeintlichen Ablebens immer noch – schleicht durch die nächtlichen Straßen zu einer dunklen Figur im Schatten eines Hauseingangs und beginnt mit ihren Schnürsenkeln zu spielen. Der betrunkene Holly Martins hält den Mann für einen Verfolger und fordert ihn höhnisch auf, aus seinem Versteck herauszukommen: “What kind of spy do you think you are?” Als eine über den Lärm erboste Nachbarin schließlich Licht macht, wird Harrys Gesicht plötzlich beleuchtet. Einer der magischsten Momente des Films.
In jedem Zimmer befindet sich eine Erklärung zur Herkunft des Namens sowie ein gerahmtes Bild der jeweiligen Szene.
Im Oktober hatten wir Vertreter des Graham Greene Birthplace Trust zu Besuch, denen wir die Namen erklären durften, und ein Zithervirtuose spielte Originalmusik aus dem Film. Die Gäste, darunter Graham Greenes Tochter Caroline Bourget, waren begeistert.