Es ist 1.59 Uhr in Wien. Die Stadt schläft. Aber im Kunsthistorischen Museum hat sich eine Gruppe von Menschen eingefunden, die gespannt wartet.
Um genau 2.00 Uhr tritt der britische Künstler und Schriftsteller Edmund de Waal ans Pult und beginnt seine Rede „During the Night“ mit den Worten: „Es ist jetzt zwei Uhr früh im Kunsthistorischen Museum. Das könnte ein Fehler sein.“
Edmund de Waal ist bekannt für seine – meist weißen – Keramiken sowie als Autor der außergewöhnlichen und bewegenden Familiengeschichte The Hare with Amber Eyes (in deutscher Übersetzung: Der Hase mit den Bernsteinaugen), in der zentrale – und tragische – Kapitel in Wien spielen. In seinen Arbeiten verwendet er Sprache als Metapher für die Gestaltung von Zylindern und Töpfen und Töpfe als Metapher für Formen von Sprache: “Wenn ich töpfere und schreibe, gibt es für mich eine starke und stabile Beziehung zwischen Objekten und Wörtern und dem Erzählen von Geschichten … Es gibt den Raum um Objekte und den Raum um Wörter.”
De Waal war am 26. November 2016 in Wien; er kuratierte damals eine Ausstellung mit dem Titel During the Night (Des Nachts), deren Ausgangspunkt die Verbildlichung eines Alptraums von Albrecht Dürer von 1525 bildete. De Waal suchte für die Ausstellung speziell Werke aus, die Traum, Angst, Disharmonie und Unruhe verkörpern, und schuf eigens eine seiner großen Vitrinen, in diesem Fall gefüllt mit schwarzen Porzellangefäßen und anderen Materialien. 2016 schrieb ich ein Blog über During the Night.
Die Netsuke-Figur Hare with Amber Eyes, die durch das gleichnamige Buch von 2010 Berühmtheit erlangte, wurde ebenfalls gezeigt, allerdings vor dem Eingang zur Ausstellung und bewusst nicht als Teil von ihr.
Ich hatte damals das Glück, Edmund de Waal kennenzulernen, einen ebenso charismatischen wie zurückhaltenden Mann. Als ich erfuhr, dass er im Rahmen einer Veranstaltungsreihe von 19.00 Uhr bis 3.00 Uhr im Museum einen Vortrag über During the Night halten würde, musste ich natürlich dabei sein.
Auf der Webseite des Kunsthistorischen Museums befindet sich ein hervorragendes Video, in dem de Waal eine Einführung zu During the Night gibt (erstes Video), und weiter unten ein Video von de Waals Vortrag um 02.00 Uhr mit dem schönen deutschen Titel: “Ein Late Night Event mit Edmund de Waal”.
Ich konnte Edmund de Waal fragen, ob er der Britischen Botschaft in Wien eines seiner Werke als langfristige Leihgabe zur Verfügung stellen würde. Ich wusste, dass er 2016 ein Werk für die Residenz des Botschafters in Beijing mit dem Titel A Short History Of The China Trade geschaffen hatte, eine Gruppe handgetöpferter Gefäße aus weißem Porzellan, arrangiert auf weißen Regalen in einer Glasvitrine. Er war gern bereit, dieser Idee nachzugehen; und so konnten wir 2017 mit Hilfe der Government Art Collection (GAC) und Sir David Verey metamorphosen 1 in der Residenz in Wien installieren.
De Waal schuf mehrere Serien schwarzer Kunstwerke, darunter metamorphosen 1, und verarbeitet darin Einflüsse aus seiner Zeit in Wien, als er für den Roman The Hare with Amber Eyes recherchierte. Hier werden dunkle glasierte Porzellangefäße und ‑scherben in Beziehung zu verschiedenen anderen dunklen Materialien wie Blei, Cortenstahl, Graphit, oxidiertem Silber und schwarzem Marmor gesetzt. Jeder dieser Blöcke, die aus dem Material geschnitten wurden, bildet eine Unterbrechung des Bands der Installation; sie sind dort platziert, so beschreibt es de Waal selbst, „als Momente des Innehaltens oder Erinnerungen an Verlorenes”.
Es gibt auch eine bemerkenswerte Analogie von de Waals metamorphosen I zur Musik. Metamorphosen ist der Titel einer Komposition für 23 Streicher von Richard Strauss, die in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs entstand. Strauss‘ Werk wird oft mit dem Untergang der deutschen Kultur assoziiert, inspiriert wurde es aber von Goethes wissenschaftlicher Abhandlung Versuch die Metamorphose der Pflanzen zu erklären (1790), einer lebensbejahenden Beschäftigung mit Wiedergeburt und Verwandlung.
Es ist ein Privileg, ein so bedeutendes Werk der zeitgenössischen Kunst in der Residenz in Wien zu haben. Ich bin Edmund de Waal dankbar dafür, dass er es uns als Dauerleihgabe überlässt, und ich danke auch Sir David Verey und der GAC, die es nach Wien gebracht haben. Und nun freue ich mich darauf, Gäste der Botschaft auf das Kunstwerk aufmerksam zu machen.